Superhelden-Overkill-Paradies

Superhelden-Overkill-Paradies

“In den letzten drei, vier Jahren bin ich von einem großen Befürworter von Superhelden-Verfilmungen zu einem weitgehend schweigenden Kritiker geworden”, schreibt Torsten “Wortvogel” Dewi in seinem aktuellen Blog-Beitrag, den er selbst “ein Pamphlet wider die Herrschaft der Superhelden” nennt. Ihn treibe, so lässt er uns wissen, die Frage um, “ob wir in Welten flüchten, in denen alle Probleme von muskelbepackten Übermenschen gelöst werden können, während die tatsächlichen Probleme der Menschheit ungelöst bleiben”. Und stellt klar: “Die Welt braucht Erwachsene, die sich vor Problemen nicht im Kinderzimmer verstecken, sondern sie angehen.”

Das ist nicht die erste so interessante wie streitbare Theorie des Wortvogels, und er wird sie gewohnt eloquent verteidigen. (Genau genommen tut er das bereits – vornehmlich auf seiner Facebook-Seite.) Und weil ich weiß, dass das für ihn der halbe Spaß ist, vor allem aber, weil ich schlicht anderer Meinung bin, versuche ich im Folgenden, dagegen zu halten.

Da ich gerade fröhlich am Zitieren bin, verweise ich zum Einstieg auf den Text des Songs “Spider-Man und ich” der Hamburger HipHop-Veteranen Fettes Brot, aus dem ich bereits an anderer Stelle zitiert habe: “Sie kaufte keine Medizin, sie kannte ihren Kleinen, denn zur Besserung gab’s ‘n Heft von Spider-Man”, heißt es dort über die tröstende Mutter des Ich-Erzählers, “nichts half besser, nichts hatte ich lieber – der Typ ist so cool, der hilft sogar gegen Fieber.” Und es folgt die wichtigste Zeile: “Bereit zum Abtauchen, alles startklar, weil Peter Parker als Spider-Man so stark war.” Das ist der Punkt (und ab jetzt übernehme ich, versprochen): Es geht ums Abtauchen.

Ich habe etwa dieselbe kulturelle Sozialisation hinter mir wie die Brote, was vor allem daran liegt, dass wir der gleichen Generation angehören und in ähnlichen Verhältnissen groß geworden sind. Wer Anfang der 80er aufs Teenie-Alter zusteuerte und nach Ablenkung von den vermeintlichen Sorgen der Mittelschicht suchte, der griff gerne zu den bunten Heften, die damals übrigens tatsächlich noch Hefte waren und bunt sowieso, vor allem aber in den Augen der Erwachsenen bestenfalls zu beschmunzelnder Schund. Es war vielleicht mein erster rebellischer Akt, im Kiosk um die Ecke in DC-Comics zu schmökern, und er wurde ungleich rebellischer, wenn ich dann Marvel-Comics mit nach Hause nahm. Ich war von Anfang an ein Marvel-Fanboy: Der eingangs erwähnte Peter Parker hatte permanent mit Problemen zu kämpfen, die mich mitunter an meine erinnerten, und das machte ihn und seine ähnlich gebeutelten Bekannten ungleich sympathischer als die Riege der attraktiven, weißen, meist reichen Männer in Strumpfhosen, mit denen DC aufwartete. Ständig pleite, meist unglücklich verliebt, gestresst durch mehrere Jobs, immer leicht verpeilt – mit zehn, zwölf Jahren ahnte ich offenbar bereits, das mein künftiges Leben dem meines Helden (besser: Freundes) Peter nicht unähnlich sein würde.

Und doch behaupte ich, damals mit der klassischen Taschenlampe unter der ebenso klassischen Bettdecke etwas für besagtes Leben gelernt zu haben, das Parkers notorisch weise Tante May viele Jahre später in einer Verfilmung seiner Abenteuer so formulierte: Spider-Man hat mir gezeigt, wie man ein bisschen länger durchhält. Die Medien verteufeln ihn, sein Dasein ist eine einzige Tragödie – aber wenn es darum geht, das Richtige zu tun, dann tut er verdammt nochmal genau das. Der Biss einer Spinne gab ihm die Möglichkeit, für andere einzutreten, also macht er das auch – Kraft, Verantwortung, Ihr kennt die Geschichte. Klar wurde ich nie von einem radioaktiven Krabbeltier gebissen, natürlich weiß ich, dass man nicht an Fäden durch Hochhausschluchten schwingen kann, aber obwohl das pathetisch klingen mag: Jeden Tag durchhalten zu müssen – damit kennt sich ja wohl jeder aus. Also war mir der freundliche Netzkopf von nebenan ein guter Ratgeber in jenen Jahren des Lernens, mindestens so wertvoll, wie das für Altersgenossen ein Sportler oder meinetwegen gar ein Politiker gewesen sein mag. Mach dir nichts draus, wenn andere schlecht von dir denken – wichtig ist, dass du das Richtige tust. Und so waren Schundhefte meine Bibel.

Daran hat sich unfassbare 35 Jahre später nichts geändert. Oder doch: Ich lese eigentlich keine Comics mehr, und wenn, dann sind es keine Hefte, sondern überteuerte Sammelbände mit edler Cover-Gestaltung, in aufwändiger Druckqualität, und sie kommen auch nicht unter die Decke, sondern ins Bücherregal. Auch geht die Zahl derer, die sie nach wie vor als Schund bezeichnen würden, inzwischen gegen Null. (Eventuell findet sich in Bayern noch ein reaktionärer Geistlicher oder in irgendeinem hessischen Dorf ein rückständiger Deutschlehrer.) Meine Generation stellt heute die aktiven Intellektuellen, und wir wissen es einfach besser. Comics sind also Kunst… und Kommerz. Denn von ihrem Herkunftsland aus haben sie in den vergangenen zehn Jahren mit zäher Beharrlichkeit ein neues Medium erobert. Ich bin immer noch ein Nerd wie als Schüler, aber inzwischen verfolge ich die Abenteuer der Helden meiner Kindheit im Kino. Bereitwillig, eher begeistert schaue ich mir jeden Marvel-Film auf der Leinwand an, kaufe einige Monate später die Blu-ray, und was im Fernsehen läuft, wird selbstverständlich am Stück verschlungen, dafür darf sehr gerne mal ein langes Wochenende draufgehen. Ich liebe das Marvel Cinematic Universe mit der gleichen Wucht, mit der ich die albernen DC-Kino-Versuche hasse. Ich trage mit Mitte 40 stolz Deadpool- und Punisher-T-Shirts. Ich diskutiere ausführlich und kontrovers mit Gleichgesinnten über Fragen wie die nach dem einzig wahren Quicksilver-Darsteller. Und warum tue ich all das? Die Antwort ist gar nicht super, sondern furchtbar banal: Weil ich es kann.

Nochmal ein leichter Druck auf die Rückspultaste: Gar nicht so lange nach meinem ersten Kontakt mit der Welt der Sprechblasen geriet ich in Kontakt mit jener Welt, deren Existenz früher oder später jede Kindheit beendet – mit der Realität. Ich wurde erwachsen in der Ära des kalten Krieges, des Super-GAU, des sauren Regens. Die Probleme unserer Welt wurden in der Schule thematisiert, in den Nachrichten, in Gesprächen auf dem Pausenhof oder mit der Familie. Was heute Trump, war damals Reagan. Die 80er waren gar nicht so bunt wie ihre Klamotten. Erst recht nicht, wenn man jung war, vor allem nicht, wenn man der Mittelschicht angehörte. Und trotzdem behaupte ich, dass gerade meine Begeisterung für das Phantastische, das Irreale, das Andere mit dafür gesorgt hat, dass ich schon seinerzeit eher jemand war, der aufgestanden ist und laut wurde, statt still zu leiden. Die Protagonisten im Comic, aber auch in der SF- und Fantasy-Literatur waren nämlich in der Regel eher aktiv als passiv. Die beiden anderen Faktoren, die mich buchstäblich auf die Straße trieben, waren übrigens mein frühes Faible für im weitesten Sinne rebellische Musik und mein sozialdemokratisches Elternhaus. Zugespitzt: Bruce Springsteen und Joe Strummer, Herbert Wehner und mein jähzorniger Vater haben ebenso wenig die Klappe gehalten wie Spider-Man und Wolverine, die Helden von Lankhmar oder Han Solo. Meine späten 80er und frühen 90er habe ich häufig demonstrierend verbracht.

Worauf ich hinaus will: Torsten stellt die Theorie auf, dass die – zugegeben – drastische Fülle an Comic-Adaptionen in Film und Fernsehen die moderne Version von Brot und Spiele darstellt. Muskelmänner und -frauen, die einfache Lösungen anbieten, halten uns davon ab, uns der komplexen Realität zu stellen – die Avengers als Opium fürs Volk. Das sehe ich völlig anders. Und doch stimme ich dem zu.

Denn selbstverständlich ist mein Nerd-Dasein ein Eskapismus. Wenn ich im Kinosessel sitze oder ganze Serienstaffeln binge, blende ich die Realität für zwei bis 48 Stunden komplett aus. Das ist allerdings mein gutes Recht. Denn was ich weiter oben angerissen habe: Wer sich 24/7 mit der echten Welt beschäftigt, hat es verdient, sich gelegentlich eine Auszeit zu nehmen. Die Steuererklärung ist erledigt, der Müll rausgebracht, im Kühlschrank liegen einigermaßen ausgewogen gewählte Lebensmittel – ich habe mein Leben schon relativ gut im Griff. Möglich macht das (daher das “Können”) ein durchaus anspruchsvoller und fordernder Job, der mich jeden Tag bis zu 15 Stunden mit der knallharten Realität konfrontiert. Ich begeistere mich für meine Arbeit als Journalist ähnlich wie für meine Sprünge in andere, in fiktive Welten. Beides sind die viel zitierten Seiten jener Medaille, die mir als politisch bewusstem Erwachsenen am Hals baumelt. Und jetzt kommt die Stelle, an der ich dem Wortvogel zustimme: Ich habe ein Auge drauf, dass beide mal sichtbar sind. Zuviel Chaos in der Welt macht Chaos im Kopf, zuviel Flucht davor birgt die Gefahr, das Chaos zu vergessen. Beides wäre falsch.

Zugegeben: Ich schreibe hier nur für mich, einen kinderlosen Mittvierziger, parteipolitisch eher links, einigermaßen gut informiert und hoffentlich normal begabt. Ob sich andere tatsächlich geistesabwesend auf die prächtigen Sahnetorten stürzen, die ihnen Hollywood serviert, und sich dabei überfressen, weiß ich letztlich so wenig wie Torsten Dewi. Die Gefahr besteht sicher. Und doch bleibe ich dabei: Die Welt braucht Helden. Also Menschen wie Ghandi, King und Mandela, wie Muhammad Ali, Severn Suzuki und den Feuerwehrmann von nebenan – aber eben ab und zu auch wie Steve Rogers und Peter Parker.

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