“Spider-Man: No Way Home” ist der Film des Jahres

“Spider-Man: No Way Home” ist der Film des Jahres

Peter Parker (Tom Holland) kann es nicht fassen: Der Vlogger J. Jonah Jameson (J.K. Simmons) hat der ganzen Welt verraten, dass er sich hinter der Maske von Spider-Man verbirgt. Und schiebt ihm gleichzeitig den Mord an Quentin Beck alias Mysterio (Jake Gyllenhaal) in die Schuhe. Um sich und seine Freundin M.J. (Zendaya) aus der Gefahrenzone zu bringen, sucht er Rat und Hilfe bei seiner Tante May (Marisa Tomei) und dem frisch von ihr getrennten Stark-Mitarbeiter Happy Hogan (Jon Favreau). Doch selbst das mächtige Industrieunternehmen kann nicht verhindern, dass Peter sich für die angebliche Bluttat verantworten muss. Gejagt von wütenden Passanten und aggressiven Reportern, wendet sich der enttarnte Superheld an Doctor Strange (Benedict Cumberbatch). Kann der Magier das Geschehene rückgängig machen und ihm seine Geheimidentität wiedergeben? Was dann folgt, stellt buchstäblich das Universum auf den Kopf. Eigentlich sogar mehrere.

Was schreibt man über einen Film, der im Wesentlichen davon lebt, sein Publikum zu überraschen? Der so aufgeregt erwartet wurde, dass die Kinos es in der Pandemie kaum schaffen, genug Säle zur Verfügung zu stellen, um dem Ansturm Herr zu werden? Der im Vorfeld ausführlich diskutiert wurde und dessen Trailer die Fans in ein Gefühlschaos zwischen wonniger Vorfreude und kaum erträglicher Anspannung warfen?

Vielleicht so etwas: “Spider-Man: No Way Home” ist der Film des Jahres. Wer Marvel und/oder das MCU liebt, sollte ihn gesehen haben. Wer grandios gemachte Actionfilme mit spektakulären Bildern liebt, sollte ihn gesehen haben. Wer lachen und weinen will, wer Überraschungen liebt, sollte ihn gesehen haben. Und wer sich dieses Jahr nur noch ein einziges Mal ins Kino traut, sollte ihn gesehen haben. Erwartet das Unerwartete. Rechnet mit allem. Und seid trotzdem begeistert.

Aber: Wenn ihr wirklich Emotionen mit den Charakteren verbindet, wenn euch die Marvel-Geschichten etwas bedeuten, weil ihr die Comics als Kind oder auch später noch gelesen habt, wenn ihr ein echter Nerd und nach einer immer unübersichtlicher werdenden Zahl von MCU-Filmen und -Serien noch immer komplett im Thema seid… dann werdet ihr euch ziemlich sicher auch ärgern.

Denn Marvel geht den einen entscheidenden Schritt, der vielleicht nötig ist, um Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen und Fans bei der Stange zu halten. Und dieser eine Schritt ist schmerzhaft, hat Auswirkungen und kann in dieser Form aktuell nur von einem einzigen Filmstudio gegangen werden, ohne Schaden zu nehmen.

Ihr versteht kein Wort? Schon klar. Vielleicht belassen wir es in dieser spoilerfreien Rezension einfach dabei, dass Tom Hollands sechster Auftritt als Spinnenmann in seinem dritten Solo-Abenteuer grandioses, unschlagbares Hollywood-Kino ist, wie gemacht für 3D und Dolby Atmos, ohne Atempause, aber mit tollen Schauspielern, vollgestopft mit Schauwerten und Emotionen. Ein Film für alle, die Kino lieben. Ein Film für Fans. Und ein Film, der einmal mehr klarstellt, wer in Sachen Blockbuster das Sagen hat. Mit einem einzigen, einem brutalen Makel.

So, wer nun weiterliest, tut das auf eigene Gefahr. Ab jetzt wird gnadenlos jedes Geheimnis und jeder Twist verraten. Mit anderen Worten:

SPOILER-ALARM!!!

Ihr seid noch da? Prima, dann haltet euch fest. Die Gerüchte sind wahr: Tatsächlich spielen Tobey Maguire (Spider-Man 2002 bis 2007) und Andrew Garfield (Spider-Man 2012 bis 2014) mit. Und Alfred Molina, Willem Dafoe, Jamie Foxx, aber auch Thomas Haden Church und Rhys Ifans sind in ihren Rollen als Antagonisten zu sehen. (Und Charlie Cox als Matt Murdock, also Daredevil. Da Vincent D’Onofrio in “Hawkeye” wieder Kingpin spielt, stellt sich die Frage, ob die Netflix-Serien nun doch Kanon sind oder die Figuren neu aufgesetzt werden.) Der MCU-Peter bekommt es mit Besuch aus anderen Universen zu tun, muss sich mit seinen beiden Inkarnationen zusammentun, um es mit fünf der mächtigsten Spider-Man-Gegner aufzunehmen. Dabei nimmt er eine Entwicklung, die nicht wenige Fans des Wandkrabblers gefordert hatten: Aus dem gut gelaunten Schüler, der massiv durch die Technik seines Mentors Tony Stark (Robert Downey jr.) unterstützt wird, aber nie so richtig das verkörperte, wofür Marvels Aushängeschild eigentlich steht, wird der wahre Spider-Man, den das MCU uns bislang vorenthalten hat. Das geht nicht ohne Verluste: May stirbt durch die Hand des Green Goblin. Sie ist quasi der Onkel Ben des MCU, denn kurz vor ihrem Tod gibt sie Peter den legendären Rat für sein Leben: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.

So ist es nur folgerichtig, dass er – nachdem sich der Rauch verzogen hat und die Ordnung wiederhergestellt ist – eine Entscheidung trifft, die seinen Weg, aber auch den weiteren Verlauf der MCU-Geschichten dramatisch verändern wird. Strange sorgt dafür, dass die Welt vergisst, wer Peter Parker ist. Sein väterlicher Kumpel Happy, sein bester Freund Ned Leeds (Jacob Batalon), aber auch seine große Liebe M.J. wissen nicht mehr, dass es ihn je gegeben hat. Alle Welt kennt Spider-Man, weiß von seinen Kämpfen an der Seite der Avengers und anderer Superhelden, diskutiert seine möglichen Motive. Doch den Mann hinter der Maske kennt niemand mehr. Peter ist allein, mittellos, auf sich selbst gestellt und nun erwachsen. Wir sehen, wie er in das klassische, verlotterte Ein-Zimmer-Apartment zieht, das wir aus den alten Filmen und vor allem aus den Comics kennen. Wir sehen, wie er sich ein Kostüm näht statt auf die High-Tech-Rüstung zu setzen, die Tony ihm hinterlassen hat. Und wir sehen, wie er sich aufmacht, um in New York für Recht und Gerechtigkeit zu sorgen. Wir sehen Spider-Man, wie er sein sollte.

Ist das gut? Nein, ist es nicht. Für mich persönlich ist Spider-Man einer der großen Helden meiner Kindheit. Mein Spider-Man ist eher Einzelgänger als Teamplayer. Hat tausend Probleme am Hals, ist meist unglücklich verliebt, oft ein Außenseiter und ständig pleite. Aber wenn jemand seine Stadt und deren Menschen bedroht, gibt er alles, um Schlimmeres zu verhindern. Er ist einer jener Helden, wie sie typisch sind für Marvel – der ewige Konkurrent DC hat die tapferen Recken mit kantigem Kinn und buntem Strampelanzug. Aber ich mochte schon immer die Ausgestoßenen, die am Ende trotzdem den Tag retten.

Also sollte es mich doch freuen, dass Hollands Interpretation des Netzschwingers nun endlich dem entspricht, was das MCU mir bislang nicht gegönnt hat. Das Problem ist nur: Wie die Produzenten das umgesetzt haben, ist einfach furchtbar. Dass der zaubernde Doktor das Wissen um Peter ausradiert, entspricht zu weiten Teilen der Handlung von “One More Day” (2007), einer der umstrittensten Storys in der langen Marvel-Historie. Im Comic wendet sich Peter an Mephisto (geht also tatsächlich einen Pakt mit dem Teufel ein), um seine geheime Identität wiederherzustellen, die er selbst zuvor aufgegeben hatte. Das bringt unter anderem mit sich, dass seine Hochzeit mit Mary Jane nie passiert ist. Und es bedeutet einfach, dass ungezählte Handlungsstränge aus mehreren Jahrzehnten einfach für nichtig erklärt werden.

Ganz so weit gehen die Folgen von “No Way Home” für das MCU nicht. Immerhin werden beispielsweise die Avengers noch wissen, dass Spider-Man mitgeholfen hat, Thanos zu besiegen. Aber sämtliche persönlichen Beziehungen unseres Helden zu anderen Menschen existieren nicht mehr. Nick Fury (Samuel L. Jackson) müsste quasi neu ermitteln, wer unter der Maske steckt. Stark käme nie auf die Idee, dem jungen Mann aus Queens irgendwie zu helfen. Wovon lebt Peter? Macht er demnächst Fotos für Jamesons fragwürdiges Online-Portal? Wie schlägt er sich im Privatleben durch? Wird er sich wieder mit M.J. und Ned anfreunden oder halten die ihn für einen verwirrten Stalker? Was macht er mit dem Wissen, das nur er hat? Sollte er jemals auf den Norman Osborn oder den Curt Connors seines Universums treffen, wäre er im Vorteil – oder hat er dann nur Vorurteile?

Der Grundgedanke hinter dieser Auflösung ist derart komplex und hat so massive Auswirkungen, dass ich wirklich hoffe, dass es irgendeinen Weg zurück nach Hause gibt. Die Möglichkeit eines sortierten Lebens für Peter ohne die Gefahr einer aufgedeckten Geheimidentität. Bis dahin fürchte ich, hat Marvel einen Schritt in die falsche Richtung getan – nicht den ersten, daran erinnert zum Beispiel die Szene im Abspann deutlich, in der wir Venom wiedersehen, der nun doch nicht Teil des MCU wird. Aber den bislang größten. Und das enttäuscht mich angesichts der epischen Wundertüte, die “Spider-Man: No Way Home” ohne Zweifel ist.

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