“Für Janina” setzt neue Krimi-Maßstäbe

“Für Janina” setzt neue Krimi-Maßstäbe

TV-Erstausstrahlung am 11.11.2018

Katrin König sitzt bei Gericht. Im Hintergrund verliest die Richterin das Urteil gegen die Kommissarin. Zwischendurch fällt der Name ihres Kollegen, Bukow. Die Richterin jedoch spricht ihn falsch aus. Bukoh, mit langem o, ohne scharfes f. Leise korrigiert König das. “Bukoff”, sagt sie. Es ist die erste Szene eines Rostocker Polizeirufs. Es ist nur dieses eine Wort, das so viel zwischen die Zeilen legt, dass die Hand gefährlich Richtung Fernbedienung zuckt, weil diese Inhaltsschwere schon nach drei Minuten kaum mehr auszuhalten ist und einer der nächsten Gedanken ist, wie das hier noch weitergehen soll, wenn es einem jetzt schon diese bleierne Schwere auf die Schultern legt, die das Atmen schwer macht. Bukow und König, die beiden Kommissare, haben seit einiger Zeit ein dickes Problem miteinander. Als König von einem Verdächtigen beinahe vergewaltigt worden wäre, drehte sie durch, nachdem sie den Mann überwältigt und “gesichert” hatte. Der ganze Zorn brach aus ihr heraus. Wäre Bukow nicht gekommen, sie hätte ihn vielleicht getötet. Anschließend müssen beide einen Bericht verfassen. Bukow lügt darin, schützt die Kollegin, schreibt, die Körperverletzung sei Notwehr gewesen. König erzählt er das erst, als sie ihren Bericht, mit allen Details der Wahrheit, bereits eingereicht hat. Beiden ist klar: Das gibt Ärger! Sie versteht nicht, dass er das Recht für sie beugen will. Er versteht nicht, dass sie sich so bereitwillig opfern will für einen Mann, der sie fast vergewaltigt hätte. Nun also ist die Sache vor Gericht. Beide Kommissare werden zu einer Geldstrafe verurteilt. Mehr als 8000 Euro für Bukow, die hat der Mann, der gerne die Gesetze so lange biegt, bis sie kurz davor sind, gebrochen zu sein, nicht. Er lebt in Scheidung, zahlt 800 Euro Unterhalt im Monat. Und überhaupt, mit Geld hat er es nicht so. Nun also das. Er ist stinksauer auf die Kollegin, die sogar noch mehr zahlen muss. Sie lächelt bei der Urteilsverkündung, die Gerechtigkeit hat gesiegt, es steht ihr ins Gesicht geschrieben, dass sie genau das denkt. Ein Siegerlächeln umschmeichelt ihre Lippen. Doch da ist der Kollege, der stinksauer ist. Der Kollege, der ihr doch erst letztens gestanden hat, dass sie der Mensch auf dem Planeten ist, der ihm am meisten bedeutet. Und das, ja, das ist für Bukows sonst eher pragmatische Verhältnis eigentlich schon eine Liebeserklärung. Und sie, irgendwie liebt sie ihn doch auch. Aber das wird nichts mit den beiden, denn, so stellte sie kürzlich fest, beide tun sich einander nicht gut. Sie ziehen sich gegenseitig in den Abgrund. Und so blieb es bisher bei einem Nahtanz, einem etwas tölpeligen Annäherungsversuch Bukows und dieser Liebeserklärung ohne das Wort Liebe. “Bukoff”, sagt König also, und die ganze Geschichte der beiden Kommissare steckt hier drin. Alles. Und es sind noch nicht einmal drei der insgesamt 88 Minuten über die Mattscheibe geflimmert. Unfassbar, was die Autoren Eoin Moore und Anika Wangard hier in 180 Sekunden rausgeholt haben an Dichte, an Charakterdarstellung, an Entwicklung der Geschichte.

Und es ist nicht nur dieses permanente Hin und Her der Kommissare, das so fesselnd ist. Auch der Fall beansprucht alles, was ein Einfühlungsvermögen, Rechtsempfinden, Mitgefühl, aber auch Verstand verfügbar ist. Eine Bekannte von Henning Röder, seines Zeichens Chef der Chaos-Ermittler, taucht im Revier auf und teilt ihm mit, dass ihr Mann verstorben sei. Und dass ihn auch auf dem Sterbebett eine Frage nicht losgelassen habe: Wer hat die Tochter vergewaltigt und umgebracht? Der Fall liegt 30 Jahre zurück, damals ermittelte Röder und nahm sogar einen Mann fest. Es kam zur Verhandlung, doch der Verdächtige wurde freigesprochen. Röders Bekannte fleht ihn an: “Schau doch noch mal in die Akten. Tu es für Janina.” Denn auch sie will die Antwort auf die Frage wissen. Katrin König schmeißt sich überschwänglich dazwischen, sagt der Dame zu: “Ich schaue es mir an.” Elanvoll schreitet sie zur Tat. Vielleicht, um den gehassliebten Kollegen wieder milde zu stimmen, um sich wieder einzubringen, um irgendetwas wieder gut zu machen. Auch für sich. So wühlen sie sich also durch 30 Jahre alte Akten, König und die Kollegen, Bukow eher missgestimmt als wirklich motiviert. Er überlegt fieberhaft, wie er sein Geldproblem löst. Sein Vater, auch eher ein windiger Bursche als ein regelkonformer Geselle, schlägt ihm vor, China-Plagiate, die in einer Lagerhalle auf den Weiterverkauf warten, zu verhökern. Passenderweise kommt der Schlüssel mit einem strasssteinbesetzten Dollar-Zeichen-Anhänger daher. Es sind die kleinen Dinge, die diesen Film so besonders machen.

Der 30 Jahre alte Fall ist deshalb so fesselnd, weil sich schon nach kurzer Zeit herausstellt: Es kann nur der damals Verdächtige und damals auch ebenso Freigesprochene gewesen sein. Und hier geraten die Polizisten an das Ende des Rechtsstaates. Niemand, der einmal für ein Vergehen freigesprochen worden ist, darf dafür noch einmal angeklagt werden. Dieser Krimi ist also kein klassischer “Whodunit”, sondern ein “Was machen wir jetzt mit dem Arschloch? Hängen wir ihn, kastrieren wir ihn oder prügeln wir ihn zu Brei?”. Allein die Szene, in der alle vier Ermittler gemeinsam unterwegs sind und verzweifelt versuchen, vom wachsweichen Täter eine DNA-Probe zu bekommen, ist grimmepreisverdächtig. Nicht, weil die Ästhetik so besonders toll ist, weil die Dialoge einem die Schuhe ausziehen oder weil die Mimik der Darsteller alles erzählt, was man wissen muss (das alles ist aber natürlich der Fall), sondern weil diese Szene etwas zeigt, das sonst in einem deutschen Krimi selten zu sehen ist: Alles (fast alles) geht schief. Der Mann will seinen Speichel nicht hergeben, er glaubt die erfundene Einbruchsserien-Geschichte nicht. Der Versuch, im Bad eine Zahnbürste oder ein paar Haare zu klauen, wird jäh beendet, als der Verdächtige Geräusche hört und den Polizisten zur Rede stellt. Und dann schmeißt er sie einfach raus, alle drei. Gäbe es da nicht Nummer vier im Bunde, der über ein Kellerfenster in die Waschküche eingestiegen ist, nicht abgesprochen mit Chef Bukow, und ein Kleidungsstück aus dem Wäschekorb klaut.

Dazwischen: Bukow und König im Kleinkrieg. König bekommt mit, dass Bukow das doch eher illegale Chinataschengeschäft durchziehen will. Sie stellt ihn zur Rede, sagt, dass sie ihn auffliegen lässt, wenn er das wirklich macht.
Bukow: “Fick dich!”
König: “Wie bitte?”
Bukow: “Sorry, das war unhöflich. Ficken Sie sich.”
König: “Moment. Ihr Leben, Ihr ganzer Scheiß, das ist nicht meine Schuld.”
Bukow: “Wissen Sie, warum ich Sie noch nie leiden konnte?”
König: “Ich dachte, ich bin der Mensch, der Ihnen am meisten bedeutet?”
Bukow: “Ihr Blick reicht nur bis zur Spitze der eigenen hübschen Nase. Sie sind was Besseres. Ich gehe mit meinem Arsch auf Grundeis.”

Es folgt eine Klopperei auf einem Schrottplatz. Und es ist herrlich, mit anzusehen, wie dieses Ventil endlich aufgeht. Der Tritt in die Eier, der Würgegriff, Ziehen an der Nase. Es war an der Zeit.

Und dann, völlig unerwartet, taucht der Vergewaltiger und Mörder auf dem Revier auf. Die einzige Chance der Ermittler: Wenn er gesteht, kann er wieder angeklagt werden. Auf dem Hausdach nehmen König und Bukow den Mann in die Zange. Ohne Plan, wie Bukow feststellt. So endet das Gespräch nahezu ergebnislos, hätte er nicht irgendwie verraten, dass er noch eine weitere Frau auf dem Gewissen hat. König setzt sich wieder ran, ermittelt mit Bukow weiter. Die Profilerin analysiert Motive, Hintergrund, Zusammenhänge und findet ein mögliches weiteres Opfer.

Doch auch hier bedient der Krimi nicht die Klischees, die dafür sorgen, dass der Fall schnell, gründlich und recht einfach gelöst wird. Denn: Die Dame ist nicht Opfer des Mannes geworden, die DNA-Untersuchung ist eindeutig. Allen wird klar: Es ist unmöglich, diesen Mann ein zweites Mal vor Gericht zu bringen. König ist aufgelöst und Bukow lässt sich zum ersten Mal zu einer warmen Geste hinreißen. Er legt seine Hand auf ihre Schulter. Sie greift nach ihr. Es ist wohl der erste Körperkontakt ohne Aggression, Schmerz und Zorn. Eine Annäherung.

Eine bleierne Schwere legt sich über die Ermittler, bis König einen verheerenden Entschluss fasst, der allem zuwiderläuft, wofür sie steht. Sie fälscht die Beweismittel. Sie tut das, was sie Bukow stets vorgeworfen hat, Biegen der Gesetze, Lügen, wofür sie beide mit knackigen Geldstrafen bedacht worden sind.  Tut sie es doch einzig für die Gerechtigkeit. Und Bukow? Dem erzählt sie davon, erinnert sie an geltendes Recht. “”Seit wann interessieren Sie sich denn für das Gesetz”, fragt sie ihn. Nein, bleibt er hart, sie könne sowas nicht tun, weil sie doch diejenige ist, die ihn in der Spur hält, weil sie nicht er sei. Doch er versucht, ihr Handeln zu vertuschen, das Beweismittel aus dem Labor zu klauen, bevor es mit neuem Label auf dem Tisch des Chefs landet. Auch das geht schief. Denn eigentlich geht bei dieser Ermittlung alles schief, so dass auch das Bild des Ermittler-Teams ein schiefes wird. Chef Röder beschwört am Ende den Teamgeist, ruft alle zu einem Kreis zusammen, bedankt sich, lobt. König und Bukow steht das kalte Grausen ins Gesicht geschrieben. Die falschen Beweismittel sind durchgegangen, der Verdächtige wird festgenommen. Für eine Tat, die er nicht begangen hat. Und nur zwei Personen wissen es. Die zwei, die sich in diesem Moment weder mehr hassen noch lieben könnten.

Und am Ende? Lässt sich Bukow von König zu seinem Kumpanen fahren, kassiert die Kohle für die Plagiate, zählt sie provokativ vor Königs Augen und steckt ihr einen Hunderte ans Revers. Sie hat ihre Spur verlassen, und er seine eigene mit ihrer Entscheidung. “Das ist so erbärmlich”, sagt sie. Die Gesichter der beiden sprechen Bände. “Ja”, sagt er. Dann fährt sie, mit ihm auf dem Beifahrersitz, zum Kneipenabend mit den Kollegen.

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